Leseprobe

Veröffentlicht auf von Kathy

Die Wahrheit über Alice

Rebecca James

 

 

 

 

I ch war nicht auf Alice’ Beerdigung. Ich war damals schwanger.

Wahnsinnig und rasend vor Trauer. Aber ich trauerte nicht

um Alice. Nein. Da hasste ich Alice schon und war froh, dass

sie tot war. Denn Alice hatte mir das angetan, Alice hatte mein

Leben zerstört, mir das Beste genommen, was ich je hatte, und

es in Millionen Scherben zerschlagen. Ich weinte nicht

 um Alice, sondern wegen Alice.

Erst jetzt, vier Jahre später und eine Ewigkeit glücklicher,

endlich angekommen in einem geborgenen und ruhigen Leben

mit meiner Tochter Sarah (meiner süßen, ach so ernsten kleinen

Sarah), wünsche ich manchmal, ich wäre doch zu Alice’ Beerdigung

gegangen.

Weil ich Alice nämlich überall sehe – im Supermarkt, am Eingang

von Sarahs Kindergarten, in dem Club, wo Sarah und ich

manchmal preiswert essen. Da sehe ich plötzlich aus den Augenwinkeln

Alice’ glänzendes weizenblondes Haar, ihre Modelfigur,

ihre auffälligen Klamotten, und ich bleibe mit pochendem

Herzen stehen und starre. Es dauert nicht lange, dann fällt mir

wieder ein, dass sie tot und begraben ist, dass sie es unmöglich

sein kann, aber dennoch muss ich mich zwingen, näher ranzugehen

und mich zu vergewissern, dass ihr Geist mich nicht

verfolgt. Von nahem sehen diese Frauen Alice manchmal ähnlich,

aber sie sind nie, niemals so schön wie sie. Oft haben sie,

aus der Nähe betrachtet, nicht mal die geringste Ähnlichkeit mit

ihr.

Dann wende ich mich ab und mache weiter mit dem, was ich

zuvor getan habe, aber alle Wärme ist mir aus Gesicht und Lippen

gewichen, und der Adrenalinstoß lässt meine Fingerspitzen

unangenehm kribbeln. Mein Tag ist unweigerlich ruiniert.

Ich hätte zu ihrer Beerdigung gehen sollen. Ich hätte nicht

weinen oder Trauer heucheln müssen. Ich hätte verbittert lachen

und in die Grube spucken können. Wen hätte das gekümmert?

Wenn ich nur gesehen hätte, wie sie ihren Sarg hinabließen,

wenn ich zugeschaut hätte, wie sie die Erde darauf warfen, dann

wäre ich mir jetzt sicherer, dass sie wirklich tot und begraben

ist.

Und ich wüsste tief in meinem Inneren, dass Alice für immer

fort ist.

 

 

H ast du Lust zu kommen?» Alice Parrie lächelt zu mir herunter.

Es ist Mittagspause, ich sitze unter einem Baum, allein,

und lese ein Buch.

«Hä?» Ich schirme die Augen ab und sehe hoch. «Wohin

kommen?»

Alice reicht mir ein Blatt Papier.

Ich nehme es und werfe einen Blick darauf. Es ist die knallbunte

Fotokopie einer Einladung zu Alice’ 18. Geburtstag.

Kommt alle!! Bringt eure Freunde mit!! steht da. Sekt gratis!

Essen gratis! Nur jemand, der so beliebt und selbstbewusst ist

wie Alice Parrie, kann eine derartige Einladung verteilen. Jeder

Normalsterbliche würde wirken, als bettelte er um Gäste. Wieso

ich?, frage ich mich. Ich kenne Alice, jeder kennt sie, aber ich

habe bisher noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Sie ist etwas

Besonderes – schön, beliebt, unübersehbar.

Ich falte die Einladung in der Mitte und nicke. «Ich versuch’s.

Klingt gut», lüge ich.

Alice schaut mich ein paar Sekunden lang unverwandt an.

Dann seufzt sie und lässt sich neben mir auf den Rasen plumpsen,

so nah, dass eins ihrer Knie schwer gegen meines drückt.

«Du kommst nicht.» Sie grinst.

Ich spüre, wie meine Wangen rot werden. Obwohl mir mein

ganzes Leben manchmal vorkommt wie eine Fassade, wie eine

Mauer aus Geheimnissen, bin ich keine gute Lügnerin. Ich blicke

nach unten auf meinen Schoß. «Wahrscheinlich nicht.»

«Aber du musst kommen, Katherine», sagt sie. «Das wär

mir wirklich total wichtig.»

Ich bin erstaunt, dass Alice überhaupt meinen Namen kennt,

aber noch erstaunlicher – ja, geradezu unglaublich – ist, dass sie

mich auf ihrer Party dabeihaben will. An der Drummond High

School kennt mich praktisch keiner, und ich bin mit niemandem

befreundet. Ich komme und gehe unauffällig, allein, und

lerne vor mich hin. Ich versuche, möglichst keine Aufmerksamkeit

auf mich zu ziehen. Ich komme ganz gut klar, aber meine

Noten sind nicht berauschend. Ich bin in keiner Schulsportmannschaft,

in keiner AG. Und obwohl ich weiß, dass ich nicht

immer so weitermachen, nicht ewig ein Schattendasein führen

kann, ist es vorläufig richtig so für mich. Ich verstecke mich, das

weiß ich, ich verhalte mich feige, aber im Augenblick muss ich

unscheinbar sein, langweilig. Damit keiner erfährt, wer ich wirklich

bin oder was passiert ist.

Ich klappe das Buch zu und fange an, meinen Lunch wegzupacken.

«Moment.» Alice legt eine Hand auf mein Knie. Ich blicke

sie so kalt an, wie ich kann, und sie zieht sie wieder zurück. «Ich

meine es ernst. Ich möchte wirklich, dass du kommst. Und ich

finde es super, was du letzte Woche zu Dan gesagt hast. Ich wäre

echt froh, wenn mir auch mal so was einfallen würde, aber so

schlagfertig bin ich einfach nicht. Und ehrlich, ich hätte nie im

Leben dran gedacht, wie das für die Frau gewesen sein muss.

Das ist mir erst klargeworden, als ich mitgekriegt habe, wie du

Dan zur Schnecke gemacht hast. Ich meine, du warst toll, was du

gesagt hast, war total richtig. Du hast ihn als den Idioten bloßgestellt,

der er ist.»

Ich weiß sofort, wovon Alice spricht – das einzige Mal, wo ich

nicht aufgepasst, mich einen Augenblick lang vergessen habe.

Ich lege mich nicht mehr mit anderen an. Im Gegenteil, ich gebe

mir alle Mühe, das in meinem täglichen Leben zu vermeiden.

Aber das Benehmen von Dan Johnson und seinen Freunden vor

einer Woche fand ich derart widerlich, dass ich mich nicht mehr

beherrschen konnte.

Unsere Schule hatte eine Berufsberaterin eingeladen, die uns

etwas über unsere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und über die

Zulassungsbedingungen für die Uni erzählen sollte. Zugegeben,

der Vortrag war langweilig, wir hatten das alles schon zigmal gehört,

und die Frau war nervös, stotterte herum und redete konfuses

Zeug. Je lauter und unruhiger ihre Zuhörer wurden, desto

mehr geriet sie aus dem Konzept. Aber Dan Johnson und seine

fiese Clique nutzten das aus. Sie führten sich dermaßen gemein

und respektlos auf, dass die Frau schließlich in Tränen ausbrach

und gedemütigt das Weite suchte. Nach der Veranstaltung tippte

ich Dan im Flur von hinten auf die Schulter.

Dan drehte sich mit einem blasierten, selbstgefälligen Gesichtsausdruck

um. Er erwartete offensichtlich Bewunderung

für sein Benehmen.

«Ist dir eigentlich klar», begann ich mit überraschend lauter,

zorniger Stimme, «wie sehr du diese Frau verletzt hast? Das ist

ihr Leben, Daniel, ihr Beruf, ihr berufliches Ansehen. Mit deinem

erbärmlichen Schrei nach Aufmerksamkeit hast du sie zutiefst

gedemütigt. Du tust mir leid, Daniel, du musst dich schon

verdammt traurig und winzig fühlen, wenn du das Bedürfnis

hast, jemanden so niederzumachen, jemanden, den du nicht

mal kennst.»

«Du warst super», fährt Alice fort. «Und ich war ehrlich gesagt

total überrascht. Echt, ich glaube, alle waren das. Niemand

redet so mit Dan.» Sie schüttelt den Kopf. «Niemand.»

Tja, ich schon, denke ich bei mir. Zumindest mein wahres

Ich.

«Es war großartig. Mutig.»

Und das Wort gibt schließlich den Ausschlag. «Mutig.» Ich

wäre so furchtbar gern mutig. Ich möchte den Feigling in mir so

wahnsinnig gern auslöschen und zerquetschen und vernichten,

dass ich Alice nicht länger widerstehen kann.

Ich stehe auf und hänge mir meine Tasche über die Schulter.

«Okay», sage ich zu meiner eigenen Verblüffung – «okay, ich

komme.»

 

A lice besteht darauf, dass wir uns gemeinsam für die Party

hübsch machen. Als der große Tag gekommen ist, holt sie

mich am frühen Nachmittag mit ihrem klapprigen alten VW ab,

und wir fahren zu ihr nach Hause. Sie wechselt ständig die Spur

und fährt viel schneller, als es einer Anfängerin mit Führerschein

auf Probe erlaubt ist, und dabei erzählt sie mir, dass sie allein

lebt, in einer Einzimmerwohnung in der Innenstadt. Das überrascht

mich, es erstaunt mich sogar. Ich hätte gedacht, dass jemand

wie Alice in einem schicken Haus in einer Vorortsiedlung

bei ihren treusorgenden Eltern wohnt. Ich hätte gedacht, dass

sie verwöhnt, umhegt, verhätschelt wird (genau wie ich früher),

und die Tatsache, dass sie allein lebt, macht sie plötzlich irgendwie

interessanter. Sie ist offenbar komplexer, als ich ihr zugetraut

hätte. Alice und ich haben mehr gemeinsam, als ich dachte.

Ich möchte ihr tausend Fragen stellen – Wo sind ihre Eltern?

Wie kann sie sich eine Wohnung leisten? Hat sie je Angst? Ist

sie einsam? –, aber ich halte mich zurück. Ich habe selbst Geheimnisse,

und ich habe gelernt, dass ich, wenn ich Fragen stelle,

nur Gefahr laufe, selbst ausgefragt zu werden. Es ist sicherer, bei

anderen nicht zu neugierig zu sein, sicherer, nichts zu fragen.

Ihre Wohnung liegt in einem spießigen, durchschnittlich aussehenden

Mietsblock. Das Treppenhaus ist dunkel und nicht

besonders einladend, aber nachdem wir vier Etagen hochgetrabt

sind und atemlos an ihrer Wohnung ankommen, öffnet sie die

Tür zu einem Zimmer voller Farbe und Wärme.

Die Wände sind in einem satten dunklen Orange gestrichen

und mit großen, knalligen abstrakten Bildern behängt. Burgunderrote

Überwürfe und farbenfrohe Kissen im Ethno-Look

verschönern zwei wuchtige, weich aussehende Sofas. Auf jeder

freien Fläche stehen Kerzen.

«Voilà!Mein bescheidenes Heim.» Alice zieht mich herein

und beobachtet gespannt mein Gesicht. Ich sehe mich im Raum

um. «Wie findest du’s? Ich hab alles selbst gemacht, weißt du.

Du hättest mal sehen sollen, wie’s hier aussah, als ich eingezogen

bin, total öde und langweilig. Aber du glaubst nicht, wie ein

bisschen Farbe einen Raum verändern kann. Eigentlich braucht

man nur ein paar Ideen und einen Eimer knallige Farbe.»

«Ich find’s echt cool», sage ich. Und bin unwillkürlich ein

wenig neidisch. Alice’ Zimmer ist richtig abgefahren, so viel jünger

als die moderne, minimalistische Wohnung, in der ich lebe.

«Ehrlich? Es gefällt dir wirklich?»

«Ja», sage ich und lache. «Ganz ehrlich.»

«Da bin ich echt froh. Du sollst dich hier nämlich genauso

wohl fühlen wie ich, weil ich vorhabe, ganz oft mit dir zusammen

zu sein. Und ich kann mir richtig vorstellen, wie wir hier in

diesem Zimmer ganz viel Zeit miteinander verbringen, wie wir

quatschen und quatschen und quatschen und uns bis tief in die

Nacht gegenseitig unsere Geheimnisse anvertrauen.»

Es heißt, charmante, beeindruckende Menschen verstünden

es, einem das Gefühl zu geben, man wäre der einzige Mensch

auf der Welt, und jetzt wird mir klar, was damit gemeint ist.

Ich bin nicht ganz sicher, was sie da macht oder wie sie es

macht – jemand anders hätte aufdringlich oder sogar unterwürfig

gewirkt –, aber wenn Alice mir so vorbehaltlos ihre Aufmerksamkeit

widmet, fühle ich mich kostbar, von der Gewissheit

erwärmt, wirklich verstanden zu werden.

Einen kurzen, verrückten Moment lang stelle ich mir vor, wie

ich ihr mein Geheimnis verrate. Ich habe alles ganz deutlich vor

Augen. Alice und ich in diesem Zimmer, wir sind beide ein bisschen

beschwipst, kicherig und fröhlich und ein ganz klein wenig

verlegen, wie man es eben ist, wenn man das Gefühl hat, eine

neue Freundin gefunden zu haben, eine besondere Freundin.

Ich lege meine Hand auf ihr Knie, damit sie still und leise wird,

damit sie weiß, dass ich etwas Wichtiges sagen will, und dann erzähle

ich es ihr. Ich erzähle es ihr schnell, ohne zu stocken, ohne

ihr in die Augen zu schauen. Und wenn ich geendet habe, ist sie

warmherzig und nachsichtig und verständnisvoll, genau wie ich

es mir erhofft habe. Sie umarmt mich. Alles ist gut, und ich fühle

mich leichter, weil ich es erzählt habe. Ich bin endlich frei.

Aber das ist alles bloß ein Traum. Ein irres Hirngespinst. Ich

erzähle ihr nichts.

Ich trage meine übliche Kluft – Jeans, Stiefel und Bluse – und

habe etwas Make-up dabei, um mich für die Party anzuhübschen,

doch Alice besteht darauf, dass ich ein Kleid anziehe. Ihr

Schrank ist prall gefüllt mit Kleidern in allen möglichen Farben

und Längen und Schnitten. Es müssen mindestens hundert sein,

und an manchen hängen noch die Preisschilder. Ich frage mich,

woher sie das Geld hat, wie sie sich so viele Klamotten leisten

kann, und schon wieder bin ich versucht zu fragen.

«Ich hab einen kleinen Klamottenfimmel.» Sie grinst.

«Tatsache?», witzele ich. «Wär ich nie drauf gekommen.»

Alice greift in den Schrank und fängt an, Kleider herauszuziehen.

Sie wirft sie aufs Bett. «Da. Such dir eins aus. Die meisten

davon hab ich noch kein einziges Mal getragen.» Sie hält ein

blaues hoch. «Gefällt’s dir?»

Es ist hübsch, aber ich habe mein Traumkleid bereits entdeckt.

Es ist rot mit Paisleymuster, ein Wickelkleid mit Gürtel,

offensichtlich aus irgendeinem Stretchmaterial. Solche Kleider

hat meine Mutter in den Siebzigern getragen, und es würde gut

zu den hohen Stiefeln passen, die ich anhabe.

Alice beobachtet mich. Sie lacht und greift nach dem roten

Kleid. «Das hier?»

Ich nicke.

«Es ist toll, nicht?» Sie hält es vor sich und schaut in den

Spiegel. «Und teuer. Es ist von Pakbelle und Kanon. Du hast

einen guten Geschmack.»

«Es ist wunderschön. Warum ziehst du es nicht selbst an?

Das Etikett ist noch dran, du hast es noch kein Mal getragen.

Wahrscheinlich hast du’s dir für einen besonderen Anlass

aufgespart.»

«Nein. Ich zieh was anderes an. Etwas Besonderes.» Alice

hält es vor mich. «Probier’s an.»

Das Kleid sitzt perfekt und passt wirklich gut zu meinen

Stiefeln. Das Rot bringt meinen dunklen Teint und die dunklen

Haare zur Geltung, und ich lächle Alice glücklich im Spiegel an.

Ich bin begeistert und froh, dass ich ihre Einladung angenommen

habe.

Alice geht in die Küche und holt eine Flasche aus dem Kühlschrank.

Es ist Sekt. Er ist rosé.

«Mhm, lecker», sagt sie und küsst die Flasche. «Meine einzig

wahre Liebe. Und hey, seit gestern bin ich volljährig.»

Sie öffnet die Flasche, lässt den Korken gegen die Decke knallen

und gießt uns beiden ein Glas ein, ohne vorher zu fragen, ob

ich auch was will. Sie geht mit ihrem ins Bad, um zu duschen

und sich zurechtzumachen, und als sie verschwunden ist, hebe

ich mein Glas und nehme einen kleinen Schluck. Seit der Nacht,

in der meine Familie zerstört wurde, habe ich keinen Alkohol

mehr getrunken. Nicht einen Tropfen. Aber andererseits habe

ich mich seitdem auch nicht mehr mit einer Freundin amüsiert,

und so setze ich das Glas wieder an den Mund und genieße das

Gefühl der perlenden Flüssigkeit an den Lippen, auf der Zunge.

Ich lasse einen weiteren kleinen Schluck durch die Kehle gleiten

und bilde mir ein, die Wirkung unmittelbar zu spüren, zu fühlen,

wie der Alkohol mir durch die Adern strömt, meine Lippen zum

Prickeln bringt, mir zu Kopf steigt. Der Sekt ist süß und süffig

wie Likör, und ich muss mich zwingen, nicht alles auf einmal

herunterzukippen.

Ich koste jeden Mundvoll aus und genieße es, wie sich mein

Körper mit jedem Schluck mehr und mehr entspannt. Als das

Glas leer ist, bin ich fröhlicher, heiterer, unbeschwerter – fast

eine normale Siebzehnjährige –, und ich lasse mich auf Alice’

buntes Sofa fallen und kichere einfach so ohne Grund. Und ich

sitze noch immer so da, lächle, genieße die angenehme Schwere

meines Körpers auf dem Sofa, als Alice wieder ins Zimmer

kommt.

«Wahnsinn. Alice. Du siehst …» Ich zucke die Achseln,

finde einfach nicht das passende Wort. «Du siehst umwerfend

aus!»

Sie hebt die Arme und dreht sich auf den Zehenspitzen. «Na,

vielen Dank, Miss Katherine», sagt sie.

Alice ist schön, atemberaubend schön. Sie ist groß, mit vollen

Brüsten und langen, wohlgeformten Beinen, und ihr Gesicht ist

ein Bild der Vollkommenheit: die Augen strahlend tiefblau, die

Haut golden schimmernd.

Ich bin auch nicht gerade hässlich, aber neben Alice komme

ich mir total reizlos vor.

Während wir auf das Taxi warten, geht Alice mit unseren

leeren Gläsern in die Küche und schenkt Sekt nach. Als ich aufstehe,

um mein Glas zu holen, merke ich, dass mir leicht schwindelig

wird. Es fühlt sich nicht unangenehm an – im Gegenteil,

es macht mich leicht und locker und entspannt. Und plötzlich

kommt mir dieses Gefühl, diese benommene Glückseligkeit,

dieser Eindruck, dass die Welt ein gütiger und freundlicher Ort

ist, so furchtbar vertraut vor, und ich merke, wie sehr es mir

Angst macht. Alkohol trickst deinen Verstand aus, er lässt dich

unvorsichtig werden, wiegt dich in dem Glauben, dass irgendwer

schon auf dich aufpassen wird – aber ich weiß, dass das nur

eine gefährliche Illusion ist. Alkohol bringt dich dazu, Risiken

einzugehen, die du normalerweise nicht eingehen würdest,

Alkohol lässt dich dumme Entscheidungen treffen. Und ich

weiß besser als jeder andere, wie verheerend die Folgen einer

einzigen schlechten Entscheidung sein können. Ich lebe jeden

Tag damit.

Ich nehme das Glas, tu aber nur so, als würde ich einen

Schluck trinken, und als das Taxi kommt, schütte ich den Rest

in die Spüle.

Alice hat den Festsaal oben im Lion Hotel gemietet. Der Saal

ist riesig und elegant, mit hohen Holzfenstern und einem herrlichen

Ausblick auf die Stadt. Es gibt weiße Luftballons, weiße

Tischdecken und eine Band. Es gibt Caterer, die Sektgläser

polieren, und Servierplatten mit teuer aussehenden Häppchen.

Und weil es eine geschlossene Gesellschaft ist, verlangt

niemand, dass wir unsere Ausweise vorzeigen, als Alice für uns

beide ein Glas Sekt holt.

«Das ist ja sagenhaft.» Ich blicke Alice neugierig an. «Haben

deine Eltern dir das alles spendiert?»

«Nein.» Alice schnaubt verächtlich. «Die könnten nicht mal

ein Grillfest geben, schon gar nicht so eine Party wie die hier.»

«Leben sie in Sydney?», frage ich.

«Wer?» Sie runzelt die Stirn.

«Deine Eltern.»

«Nein. Nein, Gott sei Dank nicht. Die leben im Norden.»

Ich frage mich, wie Alice es sich leisten kann, in Sydney zu

leben, wie sie ihre Miete bezahlt und das hier. Ich hatte an-

genommen, ihre Eltern würden sie unterstützen, aber das hier

hört sich nicht so an.

«Egal», sage ich. «Es ist supernett von dir, so eine große

Party für deine Freunde zu schmeißen. Ich glaube, so großzügig

wäre ich nie. Ich würde das Geld lieber für mich ausgeben. Für

Reisen oder irgendwas anderes Tolles.»

«Großzügig? Findest du?» Alice zuckt die Achseln. «Finde

ich eigentlich nicht. Ich liebe Partys. Besonders wenn ich die

Hauptperson bin. Was Besseres kann ich mir gar nicht vorstellen.

Und Reisen interessiert mich sowieso nicht.»

«Im Ernst?»

«Was soll ich in anderen Ländern? Da kenne ich kein Schwein,

und kein Schwein kennt mich. Also was soll’s?»

«Oh.» Ich lache und frage mich, ob sie einen Witz macht.

«Mir fällt da so einiges ein. Im Mittelmeer schwimmen, den

Eiffelturm sehen, die Chinesische Mauer, die Freiheitsstatue …

und kein Schwein kennen. Stell dir mal vor, wie befreiend das

sein muss.» Ich merke, dass Alice mich skeptisch ansieht. «Interessierst

du dich wirklich nicht fürs Reisen?»

«Nicht die Bohne. Mir gefällt’s hier. Ich mag meine Freunde.

Ich liebe mein Leben. Wieso sollte ich da woandershin wollen?»

«Weil –» Ich will ihr erzählen, wie ungeheuer neugierig ich

auf den Rest der Welt bin, wie stark mich fremde Sprachen und

Lebensarten faszinieren, die Geschichte der Menschheit, doch

wir werden unterbrochen, weil die ersten Gäste kommen.

«Alice, Alice!», rufen sie, und unversehens ist sie umringt

von Leuten. Einige kenne ich von der Schule, andere sind älter,

und ich habe sie noch nie gesehen. Manche sind sehr festlich gekleidet,

in langen Kleidern oder Anzug und Krawatte, andere salopp

in Jeans und T-Shirt. Doch eines haben sie alle miteinander

gemein: Sie wollen ein Stück von Alice haben, einen Augenblick

von ihrer Zeit, sie wollen im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit

stehen, sie zum Lachen bringen. Sie wollen alle von ihr gemocht

werden, ohne Ausnahme.

Und Alice kümmert sich um alle. Sie schafft es, dass ihre Gäste

sich rundum wohl fühlen. Aus irgendeinem Grund weicht sie

mir trotzdem den ganzen Abend kaum von der Seite. Sie hakt

sich immer wieder bei mir unter, führt mich von einer Gruppe

zur nächsten und bezieht mich in jede Unterhaltung mit ein. Wir

tanzen zusammen und lästern darüber, wie manche sich angezogen

haben, mit wem sie flirten, wer wen anscheinend attraktiv

findet. Ich amüsiere mich köstlich und habe so viel Spaß wie

schon seit Jahren nicht mehr. Und die ganze Zeit denke ich kein

einziges Mal an meine Schwester oder an meine gebrochenen

Eltern. Ich tanze und lache und flirte. Ich vergesse für eine Weile

die Nacht, in der ich die schreckliche Wahrheit über mich selbst

erkannte. Ich vergesse die Nacht, in der ich den beschämenden,

schäbigen Feigling auf dem Grund meiner Seele entdeckte.

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L
<br /> Hey, süßer Blog.Könntest du uns vlt verlinken ? wmach uns einfach nen Kommentar wenn du uns verlinkst oder ob du uns verlinkst 8:<br /> Wäre echt suppii von dir :*<br /> <br /> <br />
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K
<br /> <br /> okay<br /> <br /> <br /> <br />